Vielfaltgestaltung unter neuen Vorzeichen: Zur Bedeutung von Indifferenz

Im Januar 2022 wurde die ehemalige Beuthstraße umbenannt in „Zur Vielfalt“ – ein wichtiges Symbol für die so vielfältige und offene Dortmunder Stadtgesellschaft.

Initiiert wurde die Umbenennung aus der diversitätssensiblen Zivilgesellschaft heraus, umgesetzt über Partizipation und demokratische Prozesse auf kommunaler Ebene. Gestrichen wurde der Name Beuth, mit dem viel zu lange ein antisemitischer preußischer Ministerialbeamter geehrt wurde (vgl. Marold et al 2020). Doch ist „geehrt“ der richtige Ausdruck? Den wenigsten war wahrscheinlich bewusst, um welchen Namensgeber es sich da handelte. Nicht-Wissen, Gleichgültigkeit und Pragmatismus (Zurückschrecken vor möglichen Umstellungskosten, Verwaltungsaufwand etc.) haben wohl eher dafür gesorgt, dass Beuth auch mehr als 70 Jahre nach Ende des staatlich organisierten Antisemitismus im Stadtbild sichtbar bleiben konnte.

Nun, fast zwei Jahre nach der Umbenennung, zeigt sich eine Ambivalenz, die eben auch der Vielfalt innewohnt und mit der wir umzugehen lernen müssen: Es ist nicht damit getan, Schilder abzuhängen und vordergründig Vielfalt zu feiern, so wichtig dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag. Seit dem 7. Oktober 2023 ist unübersehbar, wie stabil Antisemitismus sich in unserer Gesellschaft hält und alte und neue Formen aus dem Verborgenen treten, Wirkung entfalten, spalten. Ein regionaler Konflikt sorgt für globale Polarisierung, die tiefe Gräben im Lokalen aufreißt – gerade auch in Dortmund.

Das Symbol „Zur Vielfalt“ und die Proklamation vielfaltsorientierter Ziele und Werte werden nur dann nicht zu leeren Hülsen, wenn es gelingt, diese Gräben zu schließen, Unrecht zu benennen, Empathie für die jeweils „anderen“ zu entwickeln und echten Dialog zu wagen. Dies bedeutet Ambivalenz aufzulösen – oder zumindest in ein erträgliches, humanistischen Standards genügendes Stadium zu überführen – jenseits des Spektrums diskriminierender und rassistischer Ismen.

Dazu gehört unbedingt auch das Schweigen zu brechen, das nach dem 7. Oktober vielfach als „dröhnendes“ oder „kaltes“ Schweigen wahrgenommen wurde (vgl. z.B. Die Zeit, taz, Tagesspiegel, Welt, s. Quellenangaben unten) ein Schweigen, das die Unfähigkeit/den Unwillen meint, die Massaker des 7. Oktober klar als barbarischen Terrorakt zu verurteilen. Es gehört dazu auch, die jeweils andere Seite zu sehen, wahrzunehmen, ihr Leid anzuerkennen und die vielen Formen von Diskriminierungen, rassistischen Ausschlüssen und Zuschreibungen zu erkennen, zu benennen, zu stoppen. Der Weg zur Vielfalt bedeutet, dass wir in diese auch harten, teils schwer auszuhaltenden Auseinandersetzungen gehen müssen – Humanismus, Menschenrechte und Respekt als Kompass. Ambiguitätstoleranz muss sich in diesen Grenzen bewegen. Dies ist schwer und verlangt in der „Gesellschaft der Vielen“ vielen Menschen einiges ab. Nur wenn wir es schaffen, über diese Schatten zu springen, öffnet sich der Weg „Zur Vielfalt“ wirklich.

Die Indifferenz, die das jahrzehntelange Überdauern der Beuth-Straße ermöglichte, mag harmlos und zweitrangig erscheinen. Doch sie gab bereits Hinweise darauf, welche(Beharrungs-)Kräfte am Werk und vielfach in ihrer Bedeutung unterschätzt sind: Auch das Schweigen heute ist nicht immer auf offenen Hass oder Relativierung zurückzuführen. Ein nicht unwesentlicher Teil ist in ähnlichen Konstellationen wie beim Überdauern der Beuthstraße begründet: Eine Mischung aus Gleichgültigkeit, Nicht-Wissen, Überforderung, Ängsten vor den Folgen von Positionierung, Bequemlichkeit, Nicht-Erkennen der Bedeutung. In dieser vermeintlichen Harmlosigkeit – und damit Negieren von Verantwortung – liegt eine große Gefahr.

„Zur Vielfalt“ darf keine Hülle, keine leere Dekoration sein. Vielmehr wird es eine der wichtigsten Aufgaben dieser Gesellschaft sein, konkrete Konzepte der Vielfaltgestaltung unter den Vorzeichen transnational wirkender Konflikte auszubuchstabieren.

Quellen:

Balzer, Jens (2023): Dröhnendes Schweigen. Die linke Clubszene zeigt keine Solidarität mit jüdischen Opfern, in: Die Zeit Online, 11.10.2023, https://www.zeit.de/2023/43/linke-clubszene-israel-palaestinenser-super-nova-festival . Zugegriffen: 10.12.2023

Kuhn, Nicola (2023): Der Kulturbetrieb duckt sich beim Israel-Konflikt weg. Angst essen Worte auf, in: Der Tagesspiegel, 3.11.2023, https://www.tagesspiegel.de/der-kulturbetrieb-duckt-sich-beim-israel-konflikt-weg-angst-essen-worte-auf-10721932.html Zugegriffen: 10.12.2023

Maroldt, Lorenz/Burchard, Armory/Warnecke, Tilman (2020): Antisemitischer Namensgeber: Beuth-Hochschule benennt sich um, in: Der Tagesspiegel, 23.01.2020, https://www.tagesspiegel.de/wissen/beuth-hochschule-benennt-sich-um-4138504.html Zugegriffen: 10.12.2023.

Schinke, Chris (2023): Deutsche Kulturszene und Hamas: Unerträgliches Schweigen zur Gewalt, in: taz, 15.10.2023, https://taz.de/Deutsche-Kulturszene-und-Hamas/!5963367/ Zugegriffen: 10.12.2023

Wilton, Jennifer (2023): Das dröhnende Schweigen zu Israels vergewaltigten Frauen, in: Welt online,  01.12.2023, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article248837976/Feminismus-Das-droehnende-Schweigen-zu-Israels-vergewaltigten-Frauen.html Zugegriffen: 10.12.2023.

Das „Labor Ankommen“ in Dortmund

Diese Wortwolke entstand im Workshop „Partizipation und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft“. Sie gibt Hinweise darauf, was nötig ist, um Partizipation zu ermöglichen und Barrieren abzubauen – und damit gangbare Wege „zur Vielfalt“ aufzuzeigen.

Der Online-Workshop am 16.11. stellt einen Baustein einer ganzen Reihe von Veranstaltungen im Rahmen des „Labor Ankommen“ dar. An diesem Termin ging es darum, vor allem mit Fachkräften aus der Verwaltung /Arbeitsfeld Integration sowie fachlichen Expert*innen ins Gespräch zu kommen. Vorausgegangen waren bereits Workshops mit Geflüchteten/Migrant*innen. Hintergrund ist die Beobachtung, dass zwar oft eine partizipative Beteiligung von Migrant*innen/Geflüchteten gefordert/gewünscht wird, diese in der Realität aber häufig auf große Hemmnisse stößt. Hohe Erwartungen und Zugangsbarrieren führen leicht zu Enttäuschungen auf allen Seiten.

Mit dem „Labor Ankommen“ hat sich Anfang 2023 ein Netzwerk aus verschiedenen Trägern und Organisationen gegründet, das sich in Veranstaltungen für verschiedene Zielgruppen (Migrant*innen/Geflüchtete; Fachkräfte Verwaltung; Schnittstelle Wissenschaft-Praxis; zivilgesellschaftliche Organisationen) mit Erwartungen, Barrieren und Ermöglichung von Partizipation auseinandersetzt. In verschiedenen Konstellationen finden Veranstaltungsformate mit den genannten Gruppen einzeln oder gemischt statt. Dabei begreifen wir Dortmund als hochinteressantes Labor für vielfältige Prozesse des Ankommens. Die Stadt verfügt über eine lange Migrationsgeschichte und einen großen Erfahrungsschatz. Ausgehend davon erweitern wir den Blick auf andere Kommunen und nehmen sukzessive eine interkommunal vergleichende Perspektive ein. Das „Labor Ankommen“ plant dazu mittelfristig eine größere überregionale, internationale Tagung zu organisieren, die auf den Ergebnissen der ersten Workshop-Phase aufbaut und einen Fokus auf dem Vergleich verschiedener Kommunen/nationaler Kontexte sowie gegenseitigem Lernen hat.

Aktiv im „Labor Ankommen“ sind derzeit:

AK Transfer im Netzwerk Fluchtforschung; AWO Unterbezirk Dortmund, Caritas Dortmund, Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS Research); Integrationsagenturen NRW, kefb/Raum vor Ort, VMDO e.V.

Ich bringe mich in meiner doppelten Rolle als VMDO-Bereichsleitung und Sprecherin des AK Transfer im Netzwerk Fluchtforschung ein und habe das „Labor Ankommen“ mitgegründet.

Weitere Informationen (Auszug aus dem Projektkonzeptpapier des Labor Ankommen, Stand Sommer 2023): In Kürze hier verfügbar.

„Was bin ich – das bin ich – ich bin viele!“ Autorenlesung und Diskussion, 14.12.2018, 18 Uhr…

…im Studio B der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Max-von-der-Grün-Platz 1-3

Die Migrationsforscherin Christine Lang vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften und der Autor und Arzt Umeswaran Arunagirinathan stellen die Bücher „generation mix: Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen“ und „Der fremde Deutsche: Leben zwischen den Kulturen“ vor – und zur Diskussion.

In „generation mix“ erklären die Autoren Jens Schneider, Maurice Crul und Frans Lelie, warum alle davon profitieren, dass es auch in Deutschland zukünftig keine „Mehrheitsgesellschaft“ mehr geben wird. Mehrfach-Identitäten werden dagegen immer wichtiger. Und: Nur die Städte, die allen ihren Talenten einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Jobs und Zugehörigkeit bieten, werden erfolgreich als Gemeinwesen funktionieren, so die Autoren. Die Soziologin Dr. Christine Lang liest Auszüge aus dem Buch und diskutiert die Thesen mit dem Publikum.

Dr. med Umeswaran Arunagirinathan wurde 1978 auf Sri Lanka geboren. Er lebt heute in Hamburg und in Bad Neustadt a.d. Saale und macht seine Facharztausbildung zum Herzchirurgen.
Er liest aus seinem Buch „Der fremde Deutsche“. Es ist die Geschichte der gelungenen Integration eines tamilischen Flüchtlings, der als unbegleiteter zwölfjähriger Junge aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland kam. Als ehemaliger Flüchtling und deutscher Staatsbürger versucht er, die Möglichkeiten, Erwartungen und Probleme für eine gelungene Integration auszuloten.

Während der Veranstaltung zeichnet der Künstler Sam Aidara vom hannoverschen Verein Linden Legendz e.V. live zum Thema „Mehrfachidentität“.

Moderation: Tina Adomako, Fachpromotorin im Eine Welt Netz NRW

Die Veranstaltung wird organisiert vom Bundesverband Netzwerke Migrantenorganisationen und dem VMDO e.V. im Rahmen des Projektes ,Demokratie leben!‘.

Ein Flyer findet sich hier.

Dritte Leseprobe aus meinem Buch ,Migration und Integration. Eine Einführung‘, Springer VS 2018

Aktuell wird viel über ,Heimat‘ diskutiert. Während ,Heimat‘ früher etwas Verstaubtes, Rückwärtsgewandtes an sich hatte, versuchen nun Vertreter_innen aller Parteien den Begriff mit ihren Ideen zu füllen. ,Man darf die Heimat nicht denen überlassen, die Schindluder damit treiben‘, schreibt der Journalist Heribert Prantl im Herbst 2017 in der Süddeutschen Zeitung. Auf die Agenda gerückt ist ,Heimat‘ auch, weil sich die Gesellschaft regelmäßig ihrer selbst, ihrer Identität vergewissert – und zwar vor allem dann, wenn über das Verhältnis zwischen Einheimischen und Menschen mit Migrationsgeschichte laut nachgedacht wird. Befeuert wurde der aktuelle Wettlauf um die Deutungshoheit durch die jüngsten Erfolge populistischer und fremdenfeindlicher Parteien und Bewegungen– genau diejenigen, die Prantl wohl als die ,Schindluder-Treibenden‘ ansieht. Der rhetorische Tanz um den Begriff Heimat geschieht in einer politischen und gesellschaftlichen Situation, in der viele Menschen in Deutschland durch die starke Fluchtzuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 verunsichert sind.

Doch auch in der Vergangenheit entfalteten sich quasi konjunkturell Debatten, in denen es unter leicht verschobenen Vorzeichen um die Frage ging, was ,Deutschsein‘ ausmacht, was die deutschen Werte sind, was die ,Leitkultur‘ beinhaltet. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass die Begriffe ,Deutschsein‘ oder ,Leitkultur‘ überraschend hohl sind und wenig feste Substanz bieten.

Dieses Vage der wiederkehrenden symbolischen Debatten um vermeintlich feste Werte und Kulturbestandteile habe ich in meinem Buch im Denkzettel Nr. 6 ,Was bedeutet Deutschsein? Und wie wird man zur/zum ,integrierten Deutschen‘ dargestellt.

Hier geht es zum Denkzettel 6, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Springer VS: Kirsten Hoesch – Migration und Integration – Denkzettel 6

Die Form des ,Denkzettels‘ habe ich für mein Buch entwickelt, um in einem kurzen, pointierten Text bei den Leser_innen einen ,Aha-Effekt‘ auszulösen, also ein Aufmerken und Hinterfragen von bislang selbstverständlichen Gewissheiten. Denkzettel leiten Kapitel ein oder bündeln eine Quintessenz. Im Buch finden sich insgesamt 19 Denkzettel, die die verschiedensten migrations- und integrationsbezogenen Themenfelder abdecken.

In meinem Buch findet sich ein weiterer Denkzettel zum Thema Leitkultur. Unter der Fragestellung ,Was ist die ,Leitkultur‘?‘ begebe ich mich auf eine kleine Zeitreise, die zeigt, wie stark auch in Deutschland vermeintlich feste Werte im Wandel sind (Denkzettel 9, S. 115).

Vielleicht ist der Vergleich zur aktuellen Heimat-Debatte auch etwas schief – mir scheint, dass der Heimat-Begriff das Zeug dazu hat, weniger ausschließend zu sein als die ,Leitkultur‘ oder eine Definition des Deutschseins an sich. Denn man kann es auch so sehen: Jenseits aller möglichen komplexen Zugehörigkeitsgefühle identifizieren sich die meisten Menschen mit ihrem Wohnort, mit ihrem Viertel – unabhängig von Nationalität, Aufenthaltsstatus und Anwesenheitsdauer. Es gilt, diese Ebene ganz pragmatisch aufzugreifen und die eigene Heimat im Sinne eines guten Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft zu gestalten. Oder wie es die nordrhein-westfälische Heimatministerin Ina Scharrenbach in einem Interview gegenüber der SZ formuliert hat ,Heimat hat offene Arme, sie grenzt nicht aus‘.

Meine neue Tätigkeit beim VMDO – von der Wissenschaft in die Praxis

Seit September 2017 bin ich für den ,Verbund der sozial-kulturellen Migrantenvereine in Dortmund e.V.‘ (VMDO) tätig. Der VMDO ist ein Verbund von aktuell 60 Migrantenvereinen in Dortmund und Umgebung, die ihrem Selbstverständnis nach lokal, säkular, herkunftsunabhängig, sprach- und kulturübergreifend sind. Der Verbund ist fest in der Stadtgesellschaft verankert und verbindet Dortmunder_innen mit und ohne Migrationsgeschichte, ihre Vereine und Organisationen miteinander. Er stellt auch eine wichtige Schnittstelle zu kommunalen Akteur_innen, anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wohlfahrtsverbänden und der Arbeitsverwaltung dar.

Mehr Informationen zum VMDO und seinen Angeboten in den Bereichen Bildung, Kultur, Arbeitsmarktintegration, Arbeit mit Geflüchteten, Kinder und Jugendliche finden sich hier http://vmdo.de/

Migrantenorganisationen nehmen eine wichtige Brückenfunktion zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte ein. Sie können einen bedeutsamen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt leisten.

Meine Aufgabe besteht darin die Projektentwicklung und das Projektmanagement zu koordinieren. Außerdem bin ich verantwortlich für wissenschaftliche Begleitung und Kooperationen mit der Wissenschaft.

Zweite Leseprobe aus meinem Buch

… mit freundlicher Genehmigung des Verlags Springer VS.

In meinem Denkzettel 8 ,Sozialkapital – „Was sollten wir denn in Kiel?“ Aus- und Rückwanderung zwischen Nordfriesland und New York‘ geht es um die wichtige Bedeutung, die Netzwerke, Migrantenvereine und Kettenmigration für eine erfolgreiche Teilhabe von Migrant_innen in der Aufnahmegesellschaft haben. Dies wird gezeigt am Beispiel von Nordfries_innen, für die es naheliegender war nach New York auszuwandern als am deutschen Festland Arbeit zu suchen. Der Grund: Seit Generationen bestanden Netzwerke von Nordfries_innen in den USA. Auch eigene Vereine, die heute leicht in den Verdacht parallelgesellschaftlicher Strukturen geraten könnten, förderten die Integration. Heute zeigt sich: Die friesischen Vereine erleichterten die Integration und veränderten sich selbst im Laufe der Zeit – so wie die Migrant_innen auch.

Kirsten Hoesch – Migration und Integration – Denkzettel 8

documenta 14 – meine Top 10

  1. Forensic Architecture – Friends of Halit Yozgat: 77sqm – 9:26min

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Für mich persönlich das beeindruckendste Werk der documenta. In diesem Film werden minutiös verschiedene Szenarien zum NSU-Mord an Halit Yozgat recherchiert. Yozgat wurde in seinem Internet-Café in der Holländischen Straße in Kassel – nur wenige Minuten vom Ausstellungsort entfernt – am 6. April 2006 vom NSU ermordet. Währenddessen hielt sich der Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café auf, der bis heute bestreitet von der Tat etwas mitbekommen bzw. den getöteten Yozgat beim Verlassen des Cafés gesehen zu haben. Architekt_innen, Künstler_innen, Performer_innen, Soundexpert_innen, Balistiker_innen etc. haben auf der Basis geleakter Ermittlungsdokumente ein Modell des Tatorts rekonstruiert. In Kombination mit den Login-Daten der anderen Internet-Café-Besucher_innen werden verschiedene Szenarien entwickelt, die die Widersprüche in Temmes Aussage aufzeigen. Im Gerichtsverfahren wurden diese möglichen Szenarien nicht weiter verfolgt. Die Arbeit von Forensic Architecture und der Gruppe ,Friends of Halit Yozgat‘ versteht sich als Gegenermittlung.

Der Film ist hier zu sehen:

http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/

Informationen zu ,Forensic Architecture‘ gibt es hier:

http://www.forensic-architecture.org/project/

  1. Marta Minujín: The Parthenon of Books

Ausstellungsort: Friedrichsplatz

Im Parthenon befinden sich Bücher, die aktuell oder früher einmal in Deutschland oder irgendwo auf der Welt verboten waren

Spenden verbotener Bücher weiterhin willkommen. Ich spende Kafkas ,Prozess‘

Das einem griechischen Tempel nachempfundene Stahlgestell der argentinischen Künstlerin wird im Laufe der documenta mit verbotenen Büchern gefüllt. Spenden sind weiterhin willkommen – auf der documenta-Seite findet sich eine Liste der Bücher, die einmal irgendwo verboten waren oder es noch sind. Buchspenden können direkt vor dem Parthenon eingeworfen werden. Kein Platz in Kassel wäre besser geeignet für den Bücher-Tempel: Auf dem Friedrichsplatz verbrannten am 19. Mai 1933 Kasseler Nazis Bücher der von ihnen geächteten, verfolgten und verbotenen Autoren. Wir haben von Kafka ,Der Prozess‘ und von Zweig ,Magellan‘ gespendet.

Der Parthenon ist – für mich – das gefühlte Zentrum der documenta. Auf dem Friedrichsplatz gelegen, in der Mitte diverser Ausstellungsorte(wie documenta-Halle, Fridericianum, Ottoneum,…) und Nähe der Karlsaue lässt sich – neben dem großartigen Parthenon – auch einfach das documenta-Flair spüren. Internationale Kunstwelt, Kasseler_innen und Tagestourist_innen aus dem Umland mischen sich hier. Der Platz um den Parthenon und die vielen Büdchen und kleinen Cafés laden zum Verweilen, zum Gucken – und zum Reden über Kunst, Politik und Demokratie ein.

Gut geeignet, um den documenta-Besuch zu eröffnen – man hat gleich das Gefühl ,drin‘ zu sein.

 

  1. Miriam Cahn: Könnte ich sein

Ausstellungsort: documenta-Halle

Miriam Cahns Bilder in der documenta-Halle…

Die Bilder der Schweizer Künstlerin ziehen einen sofort in ihren Bann. Sie sind verstörend und treffen wie eine Faust ins Gesicht. Keine weiteren Erklärungen nötig.

  1. Romuald Karmakar: Byzantion

Ausstellungsort: Orangerie Westflügel

Film/Tonaufnahme wunderschöner polyphoner Gesänge griechisch-orthodoxer und russisch-orthodoxer Priester, einmal in einer russischen, einmal in einer griechischen Kirche. Während der Filmemacher Romuald Karmakar (u.a. ,Der Totmacher‘ 1995) das Thema Byzanz sicher nicht ohne Grund gewählt hat und dahinter mannigfache Assoziationen zum Thema Ost-West, Kulturen und Konflikte, das Eigene und das Fremde, Differenz und Gleichheit etc. stecken, kann man sich auch einfach in den Sog der Musik begeben und genießen. Im Westflügel der Orangerie gelegen lässt sich – wenn man einen guten Platz erwischt – nicht nur auf die Leinwand blicken, sondern auch durchs Fenster auf die dahinter gelegenen Karlsauen.

Nach dem Besuch von Karmakars ,Byzantion‘ bietet sich eine kleine Pause auf der Terrasse der Orangerie an. Von dort ist auch Antonio Vega Macotelas ,Blut-Mühle‘ zu sehen. In der Manier dekadenter Kolonialherren kann man sich mit einem Getränk in der Hand zurücklehnen und zuschauen, wie documenta-Besucher die Mühle, die der Münzprägung in Bolivien diente, am Laufen halten, so wie es früher die indigenen Einwohner in Sklavenarbeit tun mussten. Das wäre dann eine Do-it-yourself-Performance. Wurde die ,Blut-Mühle‘ womöglich deshalb mit Absicht vor die Café-Terrasse gebaut um das zu ermöglichen? In Kassel wird alles zu Kunst, wenn man lange genug darüber nachdenkt.

  1. Ibrahim Mahama: Verhüllte Torwache

Ausstellungsort: Torwache am Grimm-Platz

Meine erste Assoziation der beiden verhüllten Torwache-Gebäude war: ein ,Anti-Christo‘. Weniger Glamour und Happening, mehr Nachdenken und Erinnern. Der in Ghana geborene Ibrahim Maham verhüllt regelmäßig Gebäude mit zusammengenähten verschlissenen Jute-Säcken, die er bei Händlern gegen neue eintauscht. Diese Säcke werden in Asien hergestellt und zum weltweiten Vertrieb diverser Güter wie Kaffee, Reis, Bohnen oder Holzkohle, vor allem für den Export nach Europa oder Amerika verwendet. Im Begleittext im Daybook heißt es dazu:

„In diesen Säcken materialisiert sich die Geschichte des Welthandels. Für Mahama sind sie einerseits forensisches Beweismittel bei seiner Suche nach Manifestationen kapitalistischen Wirtschaftens in der Welt, andererseits offenbaren sie lokale Bezüge innerhalb der internationalen Arbeiterklasse. Wer webt, verpackt, belädt und transportiert, hinterlässt auch seinen Schweiß, seinen Namen, Daten und andere Koordinaten. Aus den Säcken werden Häute mit Narben, die eine soziopolitische und wirtschaftliche Vorgeschichte erzählen.“ (Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im ,documenta 14: Daybook‘ über Ibrahim Mahama)

Der ,Anti-Christo‘: Ibrahim Mahama verhängte die Torwache mit einer Collage zusammengenähter Jutesäcke, Sinnbild für globalen Handel, Besitz, Enteigunung, Migration etc. Bei Regen besonders bedrückend.

  1. Ahlam Shibli: Heimat

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Mir haben die Fotos der Künstlerin Ahlam Shibli sehr gut gefallen, gerade auch mit meinem Blick der Migrationsforscherin. In ihrer Serie ,Heimat‘, die einen Raum in der Neuen Neuen Galerie einnimmt, zeigt sie alltägliche – aber der Aufnahmegesellschaft in ihrer Bedeutung oft gar nicht bewusste – Szenen migrantischer Communities in Kassel. Sowohl die ,Gastarbeiter_innen‘ aus der Türkei und Südeuropa als auch die nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen werden porträtiert. Dabei stehen in dieser Serie weniger die Einzelnen als vielmehr die Gruppen, die sich im Exil bilden, im Vordergrund. Während der öffentliche Diskurs dazu neigt, solche – auf den ersten Blick – herkunftsorientierten Gruppen skeptisch zu sehen und die Bildung gefährlicher und unintegrierbarer ,Parallelgesellshaften‘ zu befürchten, helfen viele dieser Gruppen tatsächlich bei der Integration, bei der Teilhabe. Sie geben ein Gefühl von Zugehörigkeit, wo vieles im Umbruch ist, sie liefern praktische Hilfe, wenn es um die Suche nach Arbeit oder Orientierung in einem neuen Umfeld geht. Die Migrationsforschung beschäftigt sich seit langem mit diesem Thema und untersucht, unter welchen Bedingungen solche Gruppen die Teilhabe von Migrant_innen fördern. Mir gefiel besonders gut das Bild des FC Bosporus in Kassel – ein Fußballverein, der explizit religiöse und politische Konflikte ausgesperrt hat und so Annäherung und Bestätigung für verschiedene Herkunftsgruppen bietet. Solche Vereine können einen immensen positiven Einfluss auf das Ankommen und die Teilhabe haben. Leider gehen diese positiven Funktionen im oft aufgeregten politischen Diskurs unter. Ahlam Shibli lenkt den Blick in eine Richtung, die in der überhitzten Debatte selten eingeschlagen wird. Im Beitrag im Daybook heißt es dazu:

„Ahlam Shibli arbeitet, jenseits aller Nachrichtensysteme, an einem besseren Verständnis der Gegenwart. Das Dramatisieren von Informationen, Teil des heutigen ,Fake-News‘-Milieus, erfordert eine größere Aufmerksamkeit für Alltägliches, für die Mechanismen der Aneignung, die die unmittelbare Erfahrung eines Landes bestimmen […].“ (Jean-Francois Chevrier im ,Daybook‘)

Zur Bedeutung von migrantischen Communities, ihren Vereinen und Organisationen und ihrem Wandel in der Zeit findet sich auch ein Beitrag in meinem Buch ,Migration und Integration. Eine Einführung‘. Eine Leseprobe im Rahmen des Denkzettels 8 „Was sollten wir denn in Kiel?“ Aus- und Rückwanderung zwischen Nordfriesland und New York gibt es hier auf meinem Blog: Kirsten Hoesch – Migration und Integration – Denkzettel 8

  1. Guillermo Galindo: Installation aus Wracks von Flüchtlingsbooten

Ausstellungsort: documenta-Halle

Flucht und Migration sind die großen Themen im Werk Galindos, der 1960 in Mexiko geboren wurde. Er sammelt Überbleibsel von Flucht in den globalen ,Hotspots‘ der Grenzüberquerungen und arrangiert sie neu, baut vor allem Klangsskulpturen daraus. In Mittelamerika werden Musikinstrumente traditionell als Talismane für den Übergang von einer Welt zur anderen angesehen (vgl. Daybook). Vor dem Hintegrund der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer der vergangenen Jahre versinnbildlichen die Bootsfragmente in der documenta-Halle diese Erfahrung und humanitäre Herausforderung sehr direkt.

  1. Máret Anne Sara: Pile o’Sápmi (2017)

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Hier werden Prozessakten zu Kunst – und verweisen auf einen Konflikt, der sich in zahlreichen Gesellschaften findet und auf den Maret Anne Sara in ihren Arbeiten und ihrem Künstlerkollektiv Kautokeino immer wieder hinweist. Es geht um die Rechte von Minderheiten, insbesondere indigener Gemeinschaften, und wie diese den Interessen der Mehrheitsgesellschaft bzw. der dominierenden Gruppen untergeordnet werden. Konkret ging es in dem Prozess, dessen Akten in englischer Übersetzung in einem langen Schaukasten zu sehen sind, um die gesetzlich vorgeschriebene Keulung von Rentierherden in Norwegen, gegen die sich Rentierhalter_innen der Gemeinschaft der Sámi wehren. Den Prozess gegen die norwegische Regierung und die erzwungene Tötung von Rentierherden – und damit die Zerstörung von Kultur und Lebensgrundlage zahlreicher Sámi-Familien – strengte der Bruder der Künstlerin an – und gewann. Das Urteil wurde damit begründet, dass die Tötung der Tiere eine Verletzung der Eigentumsrechte des Halters gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention darstellt. Die norwegische Regierung hat Berufung eingelegt.

Prozessakten als Kunst

  1. Hiwa K: When we are exhaling

Ausstellungsort: draußen vor der documenta-Halle

Die ,Wohnröhren‘ von Hiwa K vor der documenta-Halle sind kaum zu übersehen – und fanden sich in zahlreichen Medienberichten, sicher auch, weil der Künstler selbst als irakischer Flüchtling nach Deutschland kam. Das Werk weckt gemischte Assoziationen. Die nett eingerichteten und hoch geschichteten Röhren erinnern an Ikea und ,Lebe-hoch-drei‘-Werbesprüche. Im Umfeld des Kunstwerkes hörte ich auch, dass einige Besucher_innen an Mikro-Appartments und Wohnverhältnisse in den teuersten Metropolen der Welt dachten. Aber auch Flucht, Verlust und Wohnen im Behelf, in der Notlösung, stehen als Möglichkeit dahinter.

  1. Britta Marakatt-Labba: Historja (2003-2007)

Ausstellungsort: documenta-Halle

Die Sámi-Künslerin Britta Marakatt-Labba stellt in der documenta-Halle eine beindruckende, 24 Meter lange Stickarbeit aus, die die Geschichte der Sámi (in nicht-linearen, nicht chronologischen Bezügen) und die Bedeutung der Rentierhaltung visualisiert. Schön zu schauen und zu reflektieren. Lange Stickarbeiten und Bildgeschichten faszinieren mich immer wieder. Frühe Kunst-Sozialisation mit dem ,Teppich von Bayeux‘ bzw. der ,Tapisserie de la reine Mathilde‘ mag ein Grund sein.

Ein Foto gibt es z.B. hier:

http://u-in-u.com/de/documenta/2017/documenta-14-kassel/fast-tour/britta-marakatt-labba/

,Ab nach Kassel!‘ Die documenta 14 ist eine Reise wert – besonders für Migrationsinteressierte

Am Wochenende habe ich die documenta 14 in Kassel besucht –für Migrationsforscher_innen diesmal besonders interessant: Flucht, Migration, Identität, globale Ungleichheit, Gewalt und Ausbeutung sind Themen, die sich in vielen der Werke finden. Als ,interessierte Laiin‘ in Sachen Kunst hatte ich nicht den Anspruch alles zu verstehen, aber mich auf vieles einzulassen und auch eingefahrene Denkwege zu verlassen.

Etwas herausfordernd war die Planung unserer zweitägigen Besichtigungstour, da die documenta-begleitenden Publikationen – wahrscheinlich bewusst – undurchsichtig strukturiert sind. Da, wo die ,Gelegenheits-Kunstliebhaberin‘ Orientierungshilfe und strukturierte Informationen sucht, gibt es meistens nur einen bestenfalls inspirierenden, leider manchmal verwirrenden ,stream of consciousness‘ verschiedener Autoren. Aber wahrscheinlich ist etwas Dekonstruktion und freie Assoziation ersteinmal nötig, um die überkommenen Denkmuster aufzubrechen…

Daher ein praktischer Tipp: Zum künstlerisch gestalteten Documenta-Plan am besten noch einen profanen, aber übersichtlichen ,normalen‘ Stadtplan von Kassel besorgen oder sich von der passenden App leiten lassen. Und vorab ein paar Zeitungsartikel zum Thema recherchieren – das bringt bei einer ersten Orientierung mehr als das ,documenta Daybook‘. Oder meine persönliche Top-10-Liste mitnehmen (hier in Kürze verfügbar…).

Abgesehen von diesen kleinen praktischen Hürden war der Besuch aber tatsächlich inspirierend. Und nach so viel Dekonstruktion und – mein neues Lieblingswort um als Kunstkennerin durchzugehen – Polysemie sieht man auch den Gegendiskurs stärker, den viele Werke wecken wollen. Mir erschien die documenta 14 als eine sehr politische. Man kann den Messages, Anregungen und Verstörungen folgen oder auch nicht – oder für sich das jeweils Passende zusammenklauben – jedenfalls bieten viele Werke Gegenentwürfe zu unseren oft unhinterfragten Wahrnehmungen an, zum selbstbezogenden Diskurs der OECD-Welt.