documenta 14 – meine Top 10

  1. Forensic Architecture – Friends of Halit Yozgat: 77sqm – 9:26min

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Für mich persönlich das beeindruckendste Werk der documenta. In diesem Film werden minutiös verschiedene Szenarien zum NSU-Mord an Halit Yozgat recherchiert. Yozgat wurde in seinem Internet-Café in der Holländischen Straße in Kassel – nur wenige Minuten vom Ausstellungsort entfernt – am 6. April 2006 vom NSU ermordet. Währenddessen hielt sich der Verfassungsschützer Andreas Temme im Internet-Café auf, der bis heute bestreitet von der Tat etwas mitbekommen bzw. den getöteten Yozgat beim Verlassen des Cafés gesehen zu haben. Architekt_innen, Künstler_innen, Performer_innen, Soundexpert_innen, Balistiker_innen etc. haben auf der Basis geleakter Ermittlungsdokumente ein Modell des Tatorts rekonstruiert. In Kombination mit den Login-Daten der anderen Internet-Café-Besucher_innen werden verschiedene Szenarien entwickelt, die die Widersprüche in Temmes Aussage aufzeigen. Im Gerichtsverfahren wurden diese möglichen Szenarien nicht weiter verfolgt. Die Arbeit von Forensic Architecture und der Gruppe ,Friends of Halit Yozgat‘ versteht sich als Gegenermittlung.

Der Film ist hier zu sehen:

http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/

Informationen zu ,Forensic Architecture‘ gibt es hier:

http://www.forensic-architecture.org/project/

  1. Marta Minujín: The Parthenon of Books

Ausstellungsort: Friedrichsplatz

Im Parthenon befinden sich Bücher, die aktuell oder früher einmal in Deutschland oder irgendwo auf der Welt verboten waren

Spenden verbotener Bücher weiterhin willkommen. Ich spende Kafkas ,Prozess‘

Das einem griechischen Tempel nachempfundene Stahlgestell der argentinischen Künstlerin wird im Laufe der documenta mit verbotenen Büchern gefüllt. Spenden sind weiterhin willkommen – auf der documenta-Seite findet sich eine Liste der Bücher, die einmal irgendwo verboten waren oder es noch sind. Buchspenden können direkt vor dem Parthenon eingeworfen werden. Kein Platz in Kassel wäre besser geeignet für den Bücher-Tempel: Auf dem Friedrichsplatz verbrannten am 19. Mai 1933 Kasseler Nazis Bücher der von ihnen geächteten, verfolgten und verbotenen Autoren. Wir haben von Kafka ,Der Prozess‘ und von Zweig ,Magellan‘ gespendet.

Der Parthenon ist – für mich – das gefühlte Zentrum der documenta. Auf dem Friedrichsplatz gelegen, in der Mitte diverser Ausstellungsorte(wie documenta-Halle, Fridericianum, Ottoneum,…) und Nähe der Karlsaue lässt sich – neben dem großartigen Parthenon – auch einfach das documenta-Flair spüren. Internationale Kunstwelt, Kasseler_innen und Tagestourist_innen aus dem Umland mischen sich hier. Der Platz um den Parthenon und die vielen Büdchen und kleinen Cafés laden zum Verweilen, zum Gucken – und zum Reden über Kunst, Politik und Demokratie ein.

Gut geeignet, um den documenta-Besuch zu eröffnen – man hat gleich das Gefühl ,drin‘ zu sein.

 

  1. Miriam Cahn: Könnte ich sein

Ausstellungsort: documenta-Halle

Miriam Cahns Bilder in der documenta-Halle…

Die Bilder der Schweizer Künstlerin ziehen einen sofort in ihren Bann. Sie sind verstörend und treffen wie eine Faust ins Gesicht. Keine weiteren Erklärungen nötig.

  1. Romuald Karmakar: Byzantion

Ausstellungsort: Orangerie Westflügel

Film/Tonaufnahme wunderschöner polyphoner Gesänge griechisch-orthodoxer und russisch-orthodoxer Priester, einmal in einer russischen, einmal in einer griechischen Kirche. Während der Filmemacher Romuald Karmakar (u.a. ,Der Totmacher‘ 1995) das Thema Byzanz sicher nicht ohne Grund gewählt hat und dahinter mannigfache Assoziationen zum Thema Ost-West, Kulturen und Konflikte, das Eigene und das Fremde, Differenz und Gleichheit etc. stecken, kann man sich auch einfach in den Sog der Musik begeben und genießen. Im Westflügel der Orangerie gelegen lässt sich – wenn man einen guten Platz erwischt – nicht nur auf die Leinwand blicken, sondern auch durchs Fenster auf die dahinter gelegenen Karlsauen.

Nach dem Besuch von Karmakars ,Byzantion‘ bietet sich eine kleine Pause auf der Terrasse der Orangerie an. Von dort ist auch Antonio Vega Macotelas ,Blut-Mühle‘ zu sehen. In der Manier dekadenter Kolonialherren kann man sich mit einem Getränk in der Hand zurücklehnen und zuschauen, wie documenta-Besucher die Mühle, die der Münzprägung in Bolivien diente, am Laufen halten, so wie es früher die indigenen Einwohner in Sklavenarbeit tun mussten. Das wäre dann eine Do-it-yourself-Performance. Wurde die ,Blut-Mühle‘ womöglich deshalb mit Absicht vor die Café-Terrasse gebaut um das zu ermöglichen? In Kassel wird alles zu Kunst, wenn man lange genug darüber nachdenkt.

  1. Ibrahim Mahama: Verhüllte Torwache

Ausstellungsort: Torwache am Grimm-Platz

Meine erste Assoziation der beiden verhüllten Torwache-Gebäude war: ein ,Anti-Christo‘. Weniger Glamour und Happening, mehr Nachdenken und Erinnern. Der in Ghana geborene Ibrahim Maham verhüllt regelmäßig Gebäude mit zusammengenähten verschlissenen Jute-Säcken, die er bei Händlern gegen neue eintauscht. Diese Säcke werden in Asien hergestellt und zum weltweiten Vertrieb diverser Güter wie Kaffee, Reis, Bohnen oder Holzkohle, vor allem für den Export nach Europa oder Amerika verwendet. Im Begleittext im Daybook heißt es dazu:

„In diesen Säcken materialisiert sich die Geschichte des Welthandels. Für Mahama sind sie einerseits forensisches Beweismittel bei seiner Suche nach Manifestationen kapitalistischen Wirtschaftens in der Welt, andererseits offenbaren sie lokale Bezüge innerhalb der internationalen Arbeiterklasse. Wer webt, verpackt, belädt und transportiert, hinterlässt auch seinen Schweiß, seinen Namen, Daten und andere Koordinaten. Aus den Säcken werden Häute mit Narben, die eine soziopolitische und wirtschaftliche Vorgeschichte erzählen.“ (Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im ,documenta 14: Daybook‘ über Ibrahim Mahama)

Der ,Anti-Christo‘: Ibrahim Mahama verhängte die Torwache mit einer Collage zusammengenähter Jutesäcke, Sinnbild für globalen Handel, Besitz, Enteigunung, Migration etc. Bei Regen besonders bedrückend.

  1. Ahlam Shibli: Heimat

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Mir haben die Fotos der Künstlerin Ahlam Shibli sehr gut gefallen, gerade auch mit meinem Blick der Migrationsforscherin. In ihrer Serie ,Heimat‘, die einen Raum in der Neuen Neuen Galerie einnimmt, zeigt sie alltägliche – aber der Aufnahmegesellschaft in ihrer Bedeutung oft gar nicht bewusste – Szenen migrantischer Communities in Kassel. Sowohl die ,Gastarbeiter_innen‘ aus der Türkei und Südeuropa als auch die nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen werden porträtiert. Dabei stehen in dieser Serie weniger die Einzelnen als vielmehr die Gruppen, die sich im Exil bilden, im Vordergrund. Während der öffentliche Diskurs dazu neigt, solche – auf den ersten Blick – herkunftsorientierten Gruppen skeptisch zu sehen und die Bildung gefährlicher und unintegrierbarer ,Parallelgesellshaften‘ zu befürchten, helfen viele dieser Gruppen tatsächlich bei der Integration, bei der Teilhabe. Sie geben ein Gefühl von Zugehörigkeit, wo vieles im Umbruch ist, sie liefern praktische Hilfe, wenn es um die Suche nach Arbeit oder Orientierung in einem neuen Umfeld geht. Die Migrationsforschung beschäftigt sich seit langem mit diesem Thema und untersucht, unter welchen Bedingungen solche Gruppen die Teilhabe von Migrant_innen fördern. Mir gefiel besonders gut das Bild des FC Bosporus in Kassel – ein Fußballverein, der explizit religiöse und politische Konflikte ausgesperrt hat und so Annäherung und Bestätigung für verschiedene Herkunftsgruppen bietet. Solche Vereine können einen immensen positiven Einfluss auf das Ankommen und die Teilhabe haben. Leider gehen diese positiven Funktionen im oft aufgeregten politischen Diskurs unter. Ahlam Shibli lenkt den Blick in eine Richtung, die in der überhitzten Debatte selten eingeschlagen wird. Im Beitrag im Daybook heißt es dazu:

„Ahlam Shibli arbeitet, jenseits aller Nachrichtensysteme, an einem besseren Verständnis der Gegenwart. Das Dramatisieren von Informationen, Teil des heutigen ,Fake-News‘-Milieus, erfordert eine größere Aufmerksamkeit für Alltägliches, für die Mechanismen der Aneignung, die die unmittelbare Erfahrung eines Landes bestimmen […].“ (Jean-Francois Chevrier im ,Daybook‘)

Zur Bedeutung von migrantischen Communities, ihren Vereinen und Organisationen und ihrem Wandel in der Zeit findet sich auch ein Beitrag in meinem Buch ,Migration und Integration. Eine Einführung‘. Eine Leseprobe im Rahmen des Denkzettels 8 „Was sollten wir denn in Kiel?“ Aus- und Rückwanderung zwischen Nordfriesland und New York gibt es hier auf meinem Blog: Kirsten Hoesch – Migration und Integration – Denkzettel 8

  1. Guillermo Galindo: Installation aus Wracks von Flüchtlingsbooten

Ausstellungsort: documenta-Halle

Flucht und Migration sind die großen Themen im Werk Galindos, der 1960 in Mexiko geboren wurde. Er sammelt Überbleibsel von Flucht in den globalen ,Hotspots‘ der Grenzüberquerungen und arrangiert sie neu, baut vor allem Klangsskulpturen daraus. In Mittelamerika werden Musikinstrumente traditionell als Talismane für den Übergang von einer Welt zur anderen angesehen (vgl. Daybook). Vor dem Hintegrund der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer der vergangenen Jahre versinnbildlichen die Bootsfragmente in der documenta-Halle diese Erfahrung und humanitäre Herausforderung sehr direkt.

  1. Máret Anne Sara: Pile o’Sápmi (2017)

Ausstellungsort: Neue Neue Galerie bzw. Neue Hauptpost

Hier werden Prozessakten zu Kunst – und verweisen auf einen Konflikt, der sich in zahlreichen Gesellschaften findet und auf den Maret Anne Sara in ihren Arbeiten und ihrem Künstlerkollektiv Kautokeino immer wieder hinweist. Es geht um die Rechte von Minderheiten, insbesondere indigener Gemeinschaften, und wie diese den Interessen der Mehrheitsgesellschaft bzw. der dominierenden Gruppen untergeordnet werden. Konkret ging es in dem Prozess, dessen Akten in englischer Übersetzung in einem langen Schaukasten zu sehen sind, um die gesetzlich vorgeschriebene Keulung von Rentierherden in Norwegen, gegen die sich Rentierhalter_innen der Gemeinschaft der Sámi wehren. Den Prozess gegen die norwegische Regierung und die erzwungene Tötung von Rentierherden – und damit die Zerstörung von Kultur und Lebensgrundlage zahlreicher Sámi-Familien – strengte der Bruder der Künstlerin an – und gewann. Das Urteil wurde damit begründet, dass die Tötung der Tiere eine Verletzung der Eigentumsrechte des Halters gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention darstellt. Die norwegische Regierung hat Berufung eingelegt.

Prozessakten als Kunst

  1. Hiwa K: When we are exhaling

Ausstellungsort: draußen vor der documenta-Halle

Die ,Wohnröhren‘ von Hiwa K vor der documenta-Halle sind kaum zu übersehen – und fanden sich in zahlreichen Medienberichten, sicher auch, weil der Künstler selbst als irakischer Flüchtling nach Deutschland kam. Das Werk weckt gemischte Assoziationen. Die nett eingerichteten und hoch geschichteten Röhren erinnern an Ikea und ,Lebe-hoch-drei‘-Werbesprüche. Im Umfeld des Kunstwerkes hörte ich auch, dass einige Besucher_innen an Mikro-Appartments und Wohnverhältnisse in den teuersten Metropolen der Welt dachten. Aber auch Flucht, Verlust und Wohnen im Behelf, in der Notlösung, stehen als Möglichkeit dahinter.

  1. Britta Marakatt-Labba: Historja (2003-2007)

Ausstellungsort: documenta-Halle

Die Sámi-Künslerin Britta Marakatt-Labba stellt in der documenta-Halle eine beindruckende, 24 Meter lange Stickarbeit aus, die die Geschichte der Sámi (in nicht-linearen, nicht chronologischen Bezügen) und die Bedeutung der Rentierhaltung visualisiert. Schön zu schauen und zu reflektieren. Lange Stickarbeiten und Bildgeschichten faszinieren mich immer wieder. Frühe Kunst-Sozialisation mit dem ,Teppich von Bayeux‘ bzw. der ,Tapisserie de la reine Mathilde‘ mag ein Grund sein.

Ein Foto gibt es z.B. hier:

http://u-in-u.com/de/documenta/2017/documenta-14-kassel/fast-tour/britta-marakatt-labba/