Vielfaltgestaltung unter neuen Vorzeichen: Zur Bedeutung von Indifferenz

Im Januar 2022 wurde die ehemalige Beuthstraße umbenannt in „Zur Vielfalt“ – ein wichtiges Symbol für die so vielfältige und offene Dortmunder Stadtgesellschaft.

Initiiert wurde die Umbenennung aus der diversitätssensiblen Zivilgesellschaft heraus, umgesetzt über Partizipation und demokratische Prozesse auf kommunaler Ebene. Gestrichen wurde der Name Beuth, mit dem viel zu lange ein antisemitischer preußischer Ministerialbeamter geehrt wurde (vgl. Marold et al 2020). Doch ist „geehrt“ der richtige Ausdruck? Den wenigsten war wahrscheinlich bewusst, um welchen Namensgeber es sich da handelte. Nicht-Wissen, Gleichgültigkeit und Pragmatismus (Zurückschrecken vor möglichen Umstellungskosten, Verwaltungsaufwand etc.) haben wohl eher dafür gesorgt, dass Beuth auch mehr als 70 Jahre nach Ende des staatlich organisierten Antisemitismus im Stadtbild sichtbar bleiben konnte.

Nun, fast zwei Jahre nach der Umbenennung, zeigt sich eine Ambivalenz, die eben auch der Vielfalt innewohnt und mit der wir umzugehen lernen müssen: Es ist nicht damit getan, Schilder abzuhängen und vordergründig Vielfalt zu feiern, so wichtig dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag. Seit dem 7. Oktober 2023 ist unübersehbar, wie stabil Antisemitismus sich in unserer Gesellschaft hält und alte und neue Formen aus dem Verborgenen treten, Wirkung entfalten, spalten. Ein regionaler Konflikt sorgt für globale Polarisierung, die tiefe Gräben im Lokalen aufreißt – gerade auch in Dortmund.

Das Symbol „Zur Vielfalt“ und die Proklamation vielfaltsorientierter Ziele und Werte werden nur dann nicht zu leeren Hülsen, wenn es gelingt, diese Gräben zu schließen, Unrecht zu benennen, Empathie für die jeweils „anderen“ zu entwickeln und echten Dialog zu wagen. Dies bedeutet Ambivalenz aufzulösen – oder zumindest in ein erträgliches, humanistischen Standards genügendes Stadium zu überführen – jenseits des Spektrums diskriminierender und rassistischer Ismen.

Dazu gehört unbedingt auch das Schweigen zu brechen, das nach dem 7. Oktober vielfach als „dröhnendes“ oder „kaltes“ Schweigen wahrgenommen wurde (vgl. z.B. Die Zeit, taz, Tagesspiegel, Welt, s. Quellenangaben unten) ein Schweigen, das die Unfähigkeit/den Unwillen meint, die Massaker des 7. Oktober klar als barbarischen Terrorakt zu verurteilen. Es gehört dazu auch, die jeweils andere Seite zu sehen, wahrzunehmen, ihr Leid anzuerkennen und die vielen Formen von Diskriminierungen, rassistischen Ausschlüssen und Zuschreibungen zu erkennen, zu benennen, zu stoppen. Der Weg zur Vielfalt bedeutet, dass wir in diese auch harten, teils schwer auszuhaltenden Auseinandersetzungen gehen müssen – Humanismus, Menschenrechte und Respekt als Kompass. Ambiguitätstoleranz muss sich in diesen Grenzen bewegen. Dies ist schwer und verlangt in der „Gesellschaft der Vielen“ vielen Menschen einiges ab. Nur wenn wir es schaffen, über diese Schatten zu springen, öffnet sich der Weg „Zur Vielfalt“ wirklich.

Die Indifferenz, die das jahrzehntelange Überdauern der Beuth-Straße ermöglichte, mag harmlos und zweitrangig erscheinen. Doch sie gab bereits Hinweise darauf, welche(Beharrungs-)Kräfte am Werk und vielfach in ihrer Bedeutung unterschätzt sind: Auch das Schweigen heute ist nicht immer auf offenen Hass oder Relativierung zurückzuführen. Ein nicht unwesentlicher Teil ist in ähnlichen Konstellationen wie beim Überdauern der Beuthstraße begründet: Eine Mischung aus Gleichgültigkeit, Nicht-Wissen, Überforderung, Ängsten vor den Folgen von Positionierung, Bequemlichkeit, Nicht-Erkennen der Bedeutung. In dieser vermeintlichen Harmlosigkeit – und damit Negieren von Verantwortung – liegt eine große Gefahr.

„Zur Vielfalt“ darf keine Hülle, keine leere Dekoration sein. Vielmehr wird es eine der wichtigsten Aufgaben dieser Gesellschaft sein, konkrete Konzepte der Vielfaltgestaltung unter den Vorzeichen transnational wirkender Konflikte auszubuchstabieren.

Quellen:

Balzer, Jens (2023): Dröhnendes Schweigen. Die linke Clubszene zeigt keine Solidarität mit jüdischen Opfern, in: Die Zeit Online, 11.10.2023, https://www.zeit.de/2023/43/linke-clubszene-israel-palaestinenser-super-nova-festival . Zugegriffen: 10.12.2023

Kuhn, Nicola (2023): Der Kulturbetrieb duckt sich beim Israel-Konflikt weg. Angst essen Worte auf, in: Der Tagesspiegel, 3.11.2023, https://www.tagesspiegel.de/der-kulturbetrieb-duckt-sich-beim-israel-konflikt-weg-angst-essen-worte-auf-10721932.html Zugegriffen: 10.12.2023

Maroldt, Lorenz/Burchard, Armory/Warnecke, Tilman (2020): Antisemitischer Namensgeber: Beuth-Hochschule benennt sich um, in: Der Tagesspiegel, 23.01.2020, https://www.tagesspiegel.de/wissen/beuth-hochschule-benennt-sich-um-4138504.html Zugegriffen: 10.12.2023.

Schinke, Chris (2023): Deutsche Kulturszene und Hamas: Unerträgliches Schweigen zur Gewalt, in: taz, 15.10.2023, https://taz.de/Deutsche-Kulturszene-und-Hamas/!5963367/ Zugegriffen: 10.12.2023

Wilton, Jennifer (2023): Das dröhnende Schweigen zu Israels vergewaltigten Frauen, in: Welt online,  01.12.2023, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article248837976/Feminismus-Das-droehnende-Schweigen-zu-Israels-vergewaltigten-Frauen.html Zugegriffen: 10.12.2023.